Samstag, 14. März 2009

Schicksalsjahre eines vermeintlichen ADHS-Kindes

In diesem Artikel werde ich nicht bewerten, was AD(H)S ist.
Ist es eine Krankheit, ein Phänomen, ein Syndrom oder eine Störung? Das Wort 'Störung', das am häufigsten benutzt wird, sagt ja schon aus, dass jemand angeblich gestört ist und das wird als Stigmatisierung den Betroffenen nicht gerecht. Mir geht es darum, wie voreilig Diagnosen, die eigentlich nur Spezialisten durch PET-Aufnahmen stellen sollten, erfolgen und Medikamente verschrieben werden wie Ritalin .

Ritalin gehört zur Gruppe der Amphetamine und unterliegt dem Betäubungsmittelgesetz, daher ist jede Verschreibung meldepflichtig. Kritik, Auskünfte über den Hersteller
und weitere Infos stellen wir zur Verfügung. Im Netz findet man reichlich dazu.

Selten wird auf Wahrnehmungprobleme hingewiesen oder sich damit beschäftigt. Deshalb verweise ich auf das Buch von Jean Ayres.

Eine wahre Geschichte:
Eines Tages wurde X geboren. Es war ein sehr ruhiges Baby, das keinen Ton bei der Geburt von sich gab, sondern ein empörtes Schnüßchen zog. Pflegeleicht, anschmiegsam, der kuschelige Liebling der Familie. Mit zwei Monaten bekam es einen Schnupfen. Nasentropfen und ein Hustenmittel wurden verschrieben. Zwei Tage später spuckte es die Milch aus und wurde beim Wickeln kreidebleich und die Lippen liefen blau an. Es wurde sofort ins Krankenhaus gebracht. Diagnose: lebensbedrohliche Lungenentzündung. Behandlung: Herz-Lungen-Maschine, künstliches Koma, bis zu 13 Medikamente am Tag. Erst später erfuhr man, dass diese Medikamente zwar lebensrettend waren, aber viel zu hoch dosiert worden waren für diesen kleinen Babykörper.

Nach dem Krankenhausaufenthalt (das Kind wurde rund um die Uhr von Eltern und Verwandten mitbetreut), war es ein anderes Kind. Unruhe, Schlafstörungen, lautes Geschrei, dass nie aufhören wollte. Man fand heraus, dass es sich mit Opernmusik beruhigen ließ, besondere Vorliebe Bocelli.
Seine motorische Entwicklung verlief rasant. Seine motorische Unruhe trieb das Kind im Baby- und Kleinkindalter dazu sich ständig bewegen zu wollen. Auffällig war, dass es keine Risiken und keine Gefahr scheute. Nichts war diesem Kind 'heilig'. Schmerzen schien es nicht zu empfinden. Es lachte, auch wenn es zehnmal fiel und sich unzählige Male den Kopf gestoßen hatte. Mit einem Jahr war es die Sensation eines jeden Spielplatzes, weil kein Klettergerüst vor ihm sicher war. Je höher, umso besser. Seine Sprachentwicklung verlief normal. Man hatte oft den Eindruck, dass es nicht hören wolle.

Die Wohnung musste in eine Art Hochsicherheitstrakt verwandelt werden. Mit acht Monaten gelang es ihm auf die Fensterbank zu klettern und das Fenster zu öffnen in der 3. Etage. Keine Balkontür durfte offen stehen, denn so eine Balkonbrüstung ist zum Klettern da. Die Konsequenz war, überall Oliven anzubringen und alles, was Gefahr bedeuten konnte, in abschließbare Schränke zu deponieren. Die Straße war dazu da, freudig auf sie zu laufen. Es hielt mit seinen halsbrecherischen Aktionen die ganze Familie auf Trab und alle Familienmitglieder wurden zu seinem Leibwächter.

Keiner wusste, warum es sich so verhielt, bis die Mutter zum Arzt ging. Die Diagnose war nach einmal Verhalten beobachten und Fragebögen ausfüllen: ADHS. Man muss bedenken, dass bei den meisten Untersuchungen das Kind dabei ist, während es mit Argwohn beäugt wird und nicht gerade positive Dinge besprochen werden. Die Mutter hat es vorgezogen, die Besprechungen ohne das Kind durchzuführen. Oder würde irgendjemand der Leser gerne mitanhören, wenn Kritik über ihn geäußert wird? Meist wird sehr unsensibel vorgegangen und das führt erst recht zum 'Aufdrehen' des Kindes.

Mit drei Jahren !!! wollten die Ärzte dem Kind Ritalin verschreiben. Das sollte man auf keinen Fall unter sechs Jahren verschreiben. Diese Fragebögen hat die Mutter mitgenommen und jeden ausfüllen lassen, der das Kind kennt. Die Antworten fielen völlig unterschiedlich aus, weil jeder das Verhalten des Kindes anders empfand und bewertet hat. Sie hat die Ärzte damit konfrontiert. Die Gesichter und ihre unsinnigen Ausreden waren es wert.

Die Mutter hat Ritalin verweigert und versucht herauszufinden, woher seine motorische Unruhe kommt und sich auf ein Ärzteodysee eingelassen. Überall wurde die gleiche Diagnose gestellt, ohne jemals die zuverlässige Untersuchungsmethode der PET-Aufnahme anzuwenden. Sie ging zu Beratungsstellen und suchte im Internet. Erstmalig stieß sie auf kritische Stimmen und auf den Begriff Wahrnehmungsprobleme. Sie erfuhr, dass es zuverlässige Methoden gibt, um herauszufinden, ob ihr Kind darunter leidet. Das Ergebnis war: auditive, visuelle, vestibuläre und taktile Wahrnehmungsstörungen, die von wenigen Arztpraxen herausgefunden werden können, weil ihnen die Geräte, die Zeit und das Wissen dazu fehlen.

Die wahrscheinliche Ursache für sein Problem waren lt. einer Ärztin die überdosierten Medikamente, die es bekommen hatte. Ein vage Theorie? Ist den Lesern aufgefallen, dass in vielen Beipackzetteln folgendes steht: bei Einnahme des Medikamentes sollte man als Autofahrer nicht am Straßenverkehr teilnehmen. Das steht sogar bei Schmerzmitteln, Antibiotiaka- und Penizillinpräparaten dabei. Auch können zu häufig eingenommene Kopfschmerztabletten zum Medikamentenkopfschmerz führen. Alles, was sich im Körper abspielt, geschieht über das Gehirn. Bei zu viel Einflussnahme gerät es in seiner Funktion durcheinander. Bei Schnupfen verschreiben Ärzte vorsichtshalber Antibiotika und Penicillin. Bei Fieber, welches ein Symptom ist, muss Paracetamol her. Der gute Onkel Doktor wird es schon wissen. Bei den Chemiekeulen kann ein kindlicher Körper nicht erlernen Abwehrkräfte zu entwickeln und gerade das ist für Kinder unter sechs Jahren wichtig. Omas Wundermittel und viel Zuwendung tun es oft. Man kann einem Kind einreden, dass der leckere Kräutertee und der frisch gepresste Orangensaft Wunder bewirken. Placebowirkung!

Durch Kontakt in den Warte- und Beratungszimmern und in Foren war zu erkennen, wie unkritisch sich Eltern von den 'Experten' überzeugen lassen und man einem unruhigen Kind den Stempel 'ADHS' aufdrückt. In USA scheint Ritalin längst in fast jedes Kinderzimmer zu gehören und das müssen wir nicht imitieren. Es gab mal ein Gerichtsurteil in USA, dass Eltern dazu verdonnerte ihrem 'verhaltensauffälligem' Kind Ritalin geben zu müssen, damit es ein 'nützliches' Mitglied dieser Gesellschaft wird.

Wie ging es weiter mit diesem 'auffälligen' Kind? Eine Orthoptistin hat ihm eine Spezialbrille verschrieben, die es längst nicht mehr braucht. Es war zu lernen, dass es auditiv nicht fünf Anweisungen hintereinander befolgen kann. Ein Satz nach dem anderen. Das Kind konnte normal sehen und hören. Die Infos werden verzögert an das Gehirn weitergeleitet. Es bekam bis zur Einschulung Ergotherapie. Zu Hause wurde auf seine Bedürfnisse eingegangen. Es bekam zum Geburtstag und zu Weihnachten ein Minitrampolin, auf dem es nach Herzenslust herumspringen konnte, ein Pedalo, zur Gleichgewichts- und kontrollierten Bewegungsförderung, Igelbälle zur Massage, extra harte Knete, um seine Kräfte ausleben zu können, eine Kletterleiter aus Hanf in sein Zimmer, an der es turnen und klettern konnte und eine Hängematte zur Beruhigung. Wozu hat man eine schenkwütige Verwandtschaft? Die Hängematte war lange Zeit sein Lieblingsort und wenn es merkte, dass es überkickte, kletterte es freiwillig in die Hängematte. Es hatte dabei die Eigenart den Stoff um sich herumzuschlingen (Raumwahrnehmung) und beim Schaukeln schlief es ein. Das war seine Insel der Beruhigung.

Im Kindergarten fiel es nach kurzer Zeit auf und die Mutter wurde zum Gespräch geladen. Dank der sehr versierten und liebevoll- bemühten Erzieherinnen wurde das Kind baldig in die Gruppe integriert. Eine Erzieherin hatte selber ein Kind mit der Problematik. Das war sehr hilfreich.

In der Grundschule tat es sich in den ersten Wochen schwer. Diese Umstellung von einem kleinen Kindergarten mit nur zwei Gruppen auf eine Schule mit 300 Schülern und unterschiedlichen Lehrkräften irritierte es völlig. Da war aufeinmal nicht mehr die liebe- und verständnisvolle Kindergartentante. Aufklärungsgespräche zwischen Lehrkräften und Eltern mussten geführt werden, die sehr fruchtbar waren. Seine Klassenlehrerin kannte sich sehr gut aus, wusste das Kind zu nehmen und ist eine Ritalingegnerin. Die Grundschule hat es gut geschafft. Seien wir ehrlich, wenn eine Veränderung im Leben auf uns zukommt, verunsichert es uns alle, auch wenn wir sie gewollt und uns darauf gefreut haben. Umstellungsprobleme sollten wir auch Kindern zugestehen und ihnen dabei helfen.

Heute ist das Kind auf seinen Wunsch im Gymnasium, obwohl der Mutter gesagt wurde, dass so ein 'auffälliges' Kind ohne Ritalin niemals so weit kommen würde. Kein Kindergarten, keine Schule würde es auf Dauer behalten wollen. Im Gymnasium kommt es klar. Ich möchte darauf hinweisen, dass gerade diese Kinder meist besonders intelligent sind und sich selber im Wege stehen und das, was ihnen im Weg steht, muss angegangen und aufgeklärt werden. Das sind die Erwachsenen und die Gesellschaft mit ihren genormten Vorstellungen. Nicht ohne Grund, hat das Kind sich im sonnigen Süden besonders wohl gefühlt. Dort fiel es nicht auf. Südländer haben die 'Eigenart' laut und lebhaft zu sein und das Kind war mittendrinnen und fühlte sich pudelwohl. Am liebsten wollte es nicht nach Hause. In Südeuropa würde man wohl eher ein ruhiges Kind therapieren wollen.

Diese Kinder brauchen, wie jeder Mensch, Zuwendung, eine Möglichkeit sich auszupowern, elterliche und therapeutische Hilfe möglichst ohne Medizin. Es hat gelernt sich besser zu steuern, zu koordinieren, seine Sinne passend wahrzunehmen, seinen Körper anders zu erfahren, sich zu beruhigen, sich beim Sport auszutoben und dass es von seiner Familie (das Allerwichtigste) so angenommen und geliebt wird, wie es ist. Auffällig war, dass es klare Regeln, Strukturen und Tagesabläufe braucht. Mit Beginn der Gymnasiumszeit hat es sich geändert. Es ist seit dem flexibler.

Ich habe diesen Artikel geschrieben, um Eltern dazu anzuregen die Verschreibepraxis und Diagnostik der Ärzte im Interesse der Kinder zu hinterfragen. Ich kann unmöglich die Einzelfälle bewerten, aber diesen Fall, den kann ich bewerten, weil es die Geschichte eins meiner Kinder ist.
Ich habe das 'Kämpfchen' mit den Ärzten und den 'Experten' begonnen und ich bin froh, dass ich es getan habe. Es dauert, bis man Experte für seine Kinder wird. Der Gewinner ist mein Kind.

Als ich noch in ADHS-Foren zur Info unterwegs war, meldete sich eine Journalistin eines TV-Senders. Sie wollte wissen, ob wir bereit seien Interviews zu geben und unsere Kinder filmen zu lassen. Ich war bereit. Meine Vorstellung war, nachdem ich x-Horrorberichte über diese angeblich kleinen unkontrollierten 'Zappelmonster' gelesen und gesehen hatte, dass ihre positiven Seiten hervorgehoben werden. Nein, das wollte der Sender nicht. Es sollten Horrormeldungen sein. Sie wollten nichts davon wissen, dass es auch eine Wahrnehmungsproblematik gibt, die oft damit einher geht. Ärzte waren bereit sich dazu zu äußern. Innovative Ärzte, die keine Medis geben wollten, sondern auf die Wahrnehmungsproblematik und die wahren Ursachen eingehen wollten. Ausnahmen unter den Ärzten bestätigen die Regel. Die Medien wollten die liebenswerten Seiten der Kinder nicht darstellen. Sie wollten Sensationshascherei oder die Handlanger der Machenschaften der Pharmaindustrie sein. Den Bericht habe ich gesehen. Kategorie: grausam. In jedem TV-Bericht kommt der Hinweis auf die Wunderdroge Ritalin.

"Die Novartis AG (von lat. novae artes „neue Künste“) ist ein Biotechnologie- und Pharmaunternehmen mit Sitz in Basel (Schweiz). Novartis entstand 1996 aus einer Fusion der beiden ehemaligen Basler Pharma- und Chemieunternehmen Ciba-Geigy AG und Sandoz. Es war damals die grösste Firmenfusion der Welt. Heute ist Novartis das viertgrösste Pharmaunternehmen weltweit."

Die ADHS-Diagnose meines Kindes ist widerlegt worden. Es hat nie Ritalin bekommen und ist nie gefilmt worden. Bei Erwachsenen ist bekannt, dass Ritalin suchtfördernd ist. Bei Kindern und Jugendlichen gibt es angeblich keine empirischen Untersuchungsergebnisse. Komisch, wo das schon seit Jahren immer salonfähiger gemacht wird.

Auffällig für mich war bei meinen Recherchen, dass fast alle Kinder im frühen Baby- und Kleinkindalter wegen irgendwelcher Erkrankungen medikamentös behandelt worden waren.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Ich finde es großartig, dass du deinem Kind diesen Anpassungs-Weg an die gängigen Normen erspart hast! Unsere Gesellschaft lebt leider in dem Wahn, dass "normal" für "richtig" steht.
Ich möchte nicht mal sagen, dass die Diagnose ADHS auf falsch und richtig beruht, sondern, dass diese Diagnose überhaupt schon ein Wahnsinn ist. Wer sich nicht an eine gestörte Gesellschaft anpasst, ist krank...